Noch keine Bewertung

Sonnensystem

Das große Wort-Los

Zuletzt schien es so, als hätte nur Altmeisterregisseur Werner Herzog eine Art Erbpacht auf Kino-Dokumentationen über vergessene Natur und exotische Völker. Je nach Sichtweise ist der Kinozuschauer demzufolge in froher Erwartung oder in leichter Hab-Acht-Stellung. Weil Herzog durchaus grandiose Bilder einzufangen in der Lage ist, also begeistert. Und weil er sich kommentierendem Gängeln nicht verweigern kann, also nervt.

Mit SONNENSYSTEM von Thomas Heise kommt der komplette Gegenentwurf zu einem belehrenden, eindimensionalen Dok-Film auf die große Leinwand. Und das von einem Regisseur, der bislang durchaus dem Wort, der Information und vor allem deutschen Befindlichkeiten vertraute. War es reine Skepsis gegenüber dem Ausgesprochenen, die Heise nunmehr das große Wort-Los ziehen ließ und weit weg von Europa hin in den Norden Argentiniens trieb? Vom hochzivilisierten Leben hin zum indigenen Volk der Kollas von Tinkunaku?

Thomas Heise reiste mit drei Kameraleuten (Robert Nickolaus, Jutta Tränkle, René Frölke) in die Ferne, hoch auf 3500 Meter nach Santa Cruz, von dort runter ins Tal nach Rio Blanquito. Acht Minuten dauert es, bis sich der erste Mensch in die bis dahin fast „unfilmischen“, streng komponierten Bilder schiebt, in Totalen einer gewaltigen Landschaft, vor kantige Berge, in urigen Wald mit verlorenen Gehöften und eigenem Farben- wie Klangspiel des Winters, das zur Hälfte dann vom nicht minder eigenen des Sommers abgelöst wird. Dann aber wird man sich als Zuschauer längst entschieden haben – ob man dem mäandernden Tempo reiner Beobachtung folgen, das alles im guten Sinne aushalten mag oder nicht.

Falls ja, wartet eine faszinierende Reise, bei der niemand kommt und an die Hand nimmt oder erklärend lotst. Essays über die Zeit hat Thomas Heise, Sohn des Philosophen Werner Heise, seit den 80ern immer wieder gedreht, sei es über Rechtsradikale in Halle, über Menschen, die Geschichte über Geschichten reflektieren, oder schlicht den Alltag in einer Kneipe. Hier aber treibt er die (er-)forschende Beobachtung auf die Spitze, schafft allein über Bilder und O-Töne Nähe und Distanz zu einer Gemeinde zwischen Ritus und Moderne, Satellitenschüssel und Mahlstein, Karneval und Kastration.

Wenn der Film am Ende dann doch – überraschend – in eine Art Botschaft gleitet, ist die Frage, ob die Kollas eher verschwinden als wir, noch längst nicht beantwortet.

D 2010, 100 min
FSK 16
Verleih: Edition Filmmuseum

Genre: Dokumentation

Regie: Thomas Heise

Kinostart: 12.04.12

[ Andreas Körner ]