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Vergiß mein Ich

Sind wir unsere Erinnerungen?

„Ich werd’ nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier“ singen ELEMENT OF CRIME in einem ihrer melancholischen Liebeslieder. Lena Ferber, der Protagonistin in VERGISS MEIN ICH, jedoch passiert genau das: Sie wird unvermittelt zu einem weißen, unbeschriebenen Blatt Papier. Durch eine zu spät erkannte Gehirnentzündung verliert die Mittvierzigerin ihr komplettes biographisches Gedächtnis. Fortan kann sie sich nicht erinnern, wer sie gewesen ist, was ihre Vorlieben und Abneigungen waren, wen sie warum geliebt hat, oder mit wem sie befreundet war. Ihr Mann Tore versucht mit wachsender Verzweiflung, Lena zu zeigen, wer sie vor der Krankheit war, doch sie sieht auf die Zeugnisse ihres früheren Lebens mit den Augen einer Fremden.

Wie eine Außerirdische stakst Lena nun unbeholfen durch die Welt, denn mit den Erinnerungen ist auch ihr Gespür für die Emotionen der Menschen und für die ungeschriebenen zwischenmenschlichen Regeln verschwunden. Entsprechend frappiert reagiert Lenas Umwelt auf ihre unverstellten Meinungs- und Gefühlsäußerungen. Absurderweise erwächst jedoch aus diesem Nichtkennen der gesellschaftlichen Normen und der eigenen Biographie neben aller Tragik auch eine ungewohnte Freiheit. Lena ist gewissermaßen von sich selbst befreit. So kennt sie keine Höhenangst mehr und versucht unvoreingenommen einen Neuanfang mit ihrer Mutter, zu der sie vor Jahren den Kontakt abgebrochen hatte. Gleichzeitig spürt sie jedoch den Druck ihrer Mitmenschen, die beständig nach der „alten Lena“ in ihr suchen.

VERGISS MEIN ICH ist durchaus auch eine unterhaltsame und mitunter sehr komische Versuchsanordnung, welche die uralte Frage nach den Quellen der Identität stellt. Gene, Umwelt, Erfahrungen, Erinnerungen – was bestimmt unser Ich? Gibt es so etwas wie einen unwandelbaren Wesenskern, altmodisch Seele genannt?

Regisseur und Drehbuchautor Jan Schomburg, Jahrgang 1976, legt hier nach ÜBER UNS DAS ALL bereits seine zweite bemerkenswerte Arbeit vor. In beiden Filmen inszeniert er Frauen, die gesellschaftliche Konventionen ignorieren und auf sehr eigene Art frei sind. Maria Schraders Lena in VERGISS MEIN ICH schwankt glaubhaft zwischen Unsicherheit, Verzweiflung auf der einen und Neugierde und trotziger Selbstbehauptung auf der anderen Seite. Ob mit oder ohne Erinnerungen ist Lena zweifelsohne eine starke Persönlichkeit.

D 2014, 95 min
FSK 12
Verleih: Real Fiction

Genre: Tragikomödie

Darsteller: Maria Schrader, Ronald Zehrfeld, Sandra Hüller

Regie: Jan Schomburg

Kinostart: 01.05.14

[ Dörthe Gromes ]