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Atmen

Von der Schwierigkeit des Platzfindens

An sich ein alter Hut – das österreichische Kino gehört derzeit zum besten der Welt. Festivals goutieren dies mit Einladungen und Preisen, aufmerksame Cineasten reiben sich die Augen und erfreuen sich an Filmen von Murnberger, Haneke, Albert, Glawogger, Hausner, Seidl und Spielmann. Nur – von Haneke mal abgesehen – bleibt ein größeres Publikum meist aus.

Wer sich ans nachbarschaftliche Kino nicht traut, verpaßt etwas, das muß man sagen, denn die genannten Filmemacher erzählen aus ihrem kleinen Land heraus große Geschichten, die sicherlich auch durch die vielzitierte Echtheit bestechen, aber vor allem zielen sie ins Epizentrum all unserer sensorischen Wahrnehmungen, weil die Erzähler so bei sich sind, weil sie sich vom Ausschmücken mit dramaturgisch verzichtbaren Beilagen freimachen, weil sie auf den Punkt inszenieren, und weil ihnen selbst bei auf den raschen Blick eher düsteren Geschichten die Fähigkeit zu Lakonie und Humor nicht abhanden kommt. Und genau das trifft auch auf ATMEN zu, das Regiedebüt des österreichischen Schauspielers Karl Markovics.

Wir lernen darin Roman kennen, fast noch ein Junge. Von seinen gerade einmal 19 Lebensjahren hat er die letzten fünf im Jugendgefängnis verbracht, weil er einen Gleichaltrigen erschlug. Roman ist Einzelgänger, geradezu stoisch, im Berufsleben schwer vermittelbar. Erst als er sich auf eine Stellenanzeige eines Bestattungsunternehmens meldet, findet er zu einem Neuanfang im Leben.

Über die große Metapher hinaus erzählt Markovics von der überbordenden Schwierigkeit des Seinen-Platz-Findens, von Schuld und fehlender Mutterliebe. Roman macht sich nämlich auf, die Frau zu finden, die ihn als Kleinkind einst verstieß.

Das sind zugleich die intensivsten Momente des Films – die Begegnungen zwischen dem Jungen und seiner Mutter. Diese Frau wirkt noch immer unreif, dem großen, fast erwachsenen Kind kaum zugehörig, Roman ist es, der klarer, ja sattelfester scheint als diese kleine Frau. Das Aufeinandertreffen der beiden wird still erzählt – bis auf einen emotionalen, lauteren Ausbruch. Was soll man denn auch sagen, wenn es um Versäumnisse und Entzug geht, die schwer wieder gutzumachen sind? Und Margit Kogler ist zudem keine Frau der großen Worte: Wenn sie früher nicht weiter wußte, gab sie Verantwortung ab, wenn sie heute Sorgen hat, kriegt sie Herpes und raucht zu viel. Richtige Antworten kann es kaum geben – auch das bedeutet für Roman aufzustehen, gehen zu lernen, zu atmen eben.

Karl Markovics erzählt die Geschichte eines Kämpfers, aber er erzählt nicht die eines Helden, dazu ist in ATMEN alles zu geerdet, auch die graublauen Bilder, die Martin Gschlachts Kamera einfängt, passen dazu. Und daß man gefesselt und trotz des Sujets nicht „runtergezogen“ wird, liegt eben am ganz speziellen, von sprödem Witz gefärbten Duktus des östereichischen Kinos.

Natürlich kann eine derartige Geschichte nur so berührend erzählt werden, wenn die Hauptfigur sie glaubwürdig schultert. Und mit Thomas Schubert hat Markovics einen geradezu verblüffenden Darsteller gefunden. Wie er diesen beinahe erstarrten, in wenigen Momenten vom Jähzorn verführten jungen Mann gibt, das geht wirklich nahe.

Österreich 2011, 90 min
Verleih: Thimfilm

Genre: Drama

Darsteller: Thomas Schubert, Karin Lischka, Georg Friedrich

Regie: Karl Markovics

Kinostart: 08.12.11

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.