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Finsterworld

Verzaubernd und verstörend – Heimat als Alptraumland

Was kann man schreiben über einen Film, der so viel Unaussprechliches in Bildern auszudrücken weiß? Wo soll man anfangen zu erzählen bei einem Werk, welches in allem so anders ist als alles, was man die letzten Jahre vom deutschen Kino erwartet und gesehen hat? Man bleibt lange sprachlos nach Frauke Finsterwalders Spielfilmdebüt, das so wunderschön, so klug, so radikal und meisterhaft von uns und unserem Land erzählt und mit spielerischer Leichtigkeit alle Schubladen ignoriert, in die man es gerne stecken möchte.

Das mag auch daran liegen, daß die ausgebildete Dokumentarfilmerin Finsterwalder das Drehbuch mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Christian Kracht, geschrieben hat. Die literarische Freiheit dominiert die Gestaltung der Räume und Personen. Der Film wird zur luftdichten Versuchsanordnung. Schüler in Uniformen. Polizisten in Plüschkostümen. Wann bekommt man schon mal so ein Deutschland zu sehen? So romantisch, so skurril, so märchenhaft, so böse und doch so echt. Wie ein Buch, das man auf der Leinwand liest.

Es sind die manchmal bösartigen, manchmal liebevollen, aber immer exakten Beobachtungen der Charaktere von der Straße, die den Film so glaubhaft machen. Und die persönlichen Alpträume und Sehnsüchte von Finsterwalder und Kracht, die wie eine Selbstanalyse in die Szenen eingeflochten sind. Ein hochkarätiges Schauspielensemble erweckt die nur scheinbar lose verwobenen Geschichten zum Leben und bringt uns immer wieder zum Staunen.

Franziska ist Dokumentarfilmerin und verzweifelt auf der Suche nach dem echten Leben. Daß ihr Protagonist den ganzen Tag vorm Fernseher sitzt, ist ihr aber doch zu realistisch und zu wenig dramatisch. Den Frust darüber läßt sie an ihrem Freund Tom aus. Der Polizist erduldet das Herumkommandieren aus Liebe zu ihr, sein größtes Geheimnis wird er aber auch nicht los. Dann ist da das Ehepaar Sandberg. Gelangweilt und angeödet vom eigenen Reichtum, übertrumpfen sie sich gegenseitig in ihrem Zynismus. Die Unzufriedenheit gehört zum übervollen Leben wie das Luxusmietauto. Ihr schnöseliger Sohn Maximilian ist unterdessen mit dem Rest einer Internatsklasse auf dem Weg in die KZ-Gedenkstätte. Doch die Jugend will und kann sich nicht mehr schuldig fühlen. Ganz anders der Fußpfleger Claude, der von Angst und Schuld erdrückt wird und sich doch nur nach Liebe sehnt.

Und darum geht es. Um die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken in einer Welt, die erstarrt ist in Statussymbolen, Regeln und Zwängen. Die erstickt im Egoismus und der Angst davor. In der Berührungen nur noch unter Vortäuschung von Notwendigkeiten stattfinden. In schlafwandlerischen Bildern erzählt der Film verzaubernd und verstörend zugleich von diesen Geschichten. Und er ist so mutig, einigen seiner Figuren ein ungerechtes Ende widerfahren zu lassen. Die Welt im Film ist leer und klar. Und wunderschön. Auf den Straßen, in die Felder und durch die Städte scheint eine Sonne, die keinen deutschen Herbst zu kennen scheint. Das erinnert an DIE TRUMAN SHOW von Peter Weir. Der hat mit PICKNICK AM VALENTINSTAG einen Film gemacht, der in seiner traumähnlichen Atmosphäre und der fühlbaren, aber nicht benennbaren Bedrohung, die über allem schwebt, bis heute ein Meisterwerk ist, und dem FINSTERWORLD in seiner makaberen Schönheit in nichts nachsteht.

D 2013, 91 min
FSK 12
Verleih: Alamode

Genre: Drama, Schräg, Thriller

Darsteller: Ronald Zehrfeld, Sandra Hüller, Michael Maertens, Carla Juri, Margit Carstensen, Corinna Harfouch, Bernhard Schütz, Johannes Krisch, Christoph Bach, Leonard Scheicher

Regie: Frauke Finsterwalder

Kinostart: 17.10.13

[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...