Originaltitel: AS BOAS MANEIRAS

Brasilien/F 2017, 136 min
FSK 12
Verleih: Salzgeber

Genre: Horror, Drama, Märchen

Darsteller: Isabél Zuaa, Marjorie Estiano, Miguel Lobo, Cida Moreira

Regie: Marco Dutra, Juliana Rojas

Kinostart: 26.07.18

1 Bewertung

Gute Manieren

Betörende Elegie für drei Stimmen im fahlen Licht des Mondes

Wir wissen nicht viel über Clara und erfahren zukünftig ebenfalls wenig. Alleinstehend, Krankenschwester, pflegte ihre sieche Großmutter. Trägt scheinbar die ganze Weltenlast, lächelt nie, wirkt permanent schwermütig. Vollkommen konträr (zunächst) Ana: selbstbewußt, ziemlich tussig, nicht beabsichtigt dünkelhaft, eher nachlässig arrogant. Schwanger, Single. Clara soll für Ana arbeiten, erst den Haushalt schmeißen, dann zusätzlich das Kind versorgen. Bitte beachten: Der Personalaufzug befindet sich links, unsere neureichen Bewohner nerven Störungen, danke!

Es entspinnt sich die Geschichte zweier Frauen, beide auf eigene Weise mysteriös, und ihrer Annäherung – ein komplexes Wechselspiel vor dem Hintergrund verklebter sozialer Strukturen, grenzenloser Gottesfurcht, geahndetem Anderssein. Charakterliche Ungleichheiten sowie per se trennende Herkünfte weichen, man nimmt ineinander das Einende wahr, den Außenseiterstatus. Und noch mehr, es knistert spannungsvoll, wogt erotisch. Fassaden bröckeln, Verletzungen werden gemeinsam erlebt: Niemand übermittelt Glückwünsche zu Anas Geburtstag, eine beim Shoppen getroffene angebliche Freundin hält naserümpfende Verachtung parat.

Ungeachtet sicherer Tragfähigkeit folgt bald eine Komplettumdrehung des Konzepts, ein Baby greint nach grausamer Geburt, Claras Muttergefühle lodern, das Großstadtdrama mutiert, setzt seinen Weg als düsteres urbanes Märchen fort. Und man liest es bereits, das Gemecker erwartungsenttäuschter Gekröse-Fans: kaum Blut, dazu bestenfalls zweckmäßige Spezialeffekte … Stimmt, ohne den Kern der Sache bloß annähernd zu erfassen, weil jeglicher Horroranteil lediglich dem – sozusagen – Überbiß dient. Zum wachen Sehen antretende Augen honorieren daher die atemberaubende, magische Ästhetik eines regelrecht artifiziell stilisierten São Paulo, bemerken sorgfältig komponierte winzige Details erzählerischer Tiefe.

Beispielsweise kettet Clara Sohn Miguel aus verständlichen Gründen nachts an, beim Einschlafen unterstützen ihn jedoch trotzdem Kuscheltiere – Humanität versus Monstrosität. Letztere symbolisiert abseits der physischen Kreatur ungern gesehene, eigensinnige Individualität, die auf GUTE MANIEREN pfeift, wenn selbige nicht nur auf gewaschene Pfoten vor dem Essen pochen, sondern – wie passend – Heulen mit normierten Wölfen meinen.

Schließlich grüßt uns ein drittes Genre, das Musical nämlich. Es kam, um wider aufgerissenen Broadway-Pomps oder gar fröhlicher Ohrwurmmelodieschnulzerei zu bleiben, läßt Figuren plötzlich einfach lossingen, technisch erneut verbesserungswürdig. Dafür markiert jede einzelne Note einen emotionalen Höhepunkt, authentischer geht’s nimmer, bedrückender auch nicht. Diese Todtraurigkeit transportiert nahezu fühlbaren Schmerz, legt zentralmotivisch den ultimativen Schrecken frei: Verlust. Die Angst davor kennt genau, wer irgendwann schon mal ehrlich liebte.

„Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“, heißt es ja am Schluß klassischer Märchen. Daß Toleranz betreffend teils unverändert – beziehungsweise wieder – mittelalterliche Zustände herrschen, dämpft hier entsprechenden Optimismus. Außerdem: Lügt ein positives Finale das echte Übel (das Angriffspotential normaler Menschen, welche diffuse Ängste martern) schön? Oder tätigt ein negatives vielleicht falsche Aussagen? Solcher Zwiespalt löst sich herzzerreißend auf, direkt vor schier lähmender Stille des anrollenden Abspanns.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...