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Material

Die Geschichte, ein Haufen

Das „echte“ Leben versammelt der Dokumentarfilmemacher in Stunden um Stunden Material. Das Kondensat wird im Schnitt zum Film und damit zur Geschichte aus der Perspektive des Filmemachers. Im besten Falle zu einer, die mehr erzählt, als das, was man als „echtes“ Leben so festhalten kann.

Thomas Heise arbeitet seit 1982 als freier Regisseur. Vorher studierte er an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf.“ Er brach dieses Studium ab, und seine Filmaufnahmen landeten zumeist unveröffentlicht im Archiv. Er ist Berliner. Das könnte wichtig sein, um seine Materialiensammlung, die deutsche Geschichte in Filmsegmenten von 1988 bis heute im Rückblick zeigt, besser zu erspüren. Wichtig vor allem deshalb, weil Heise seinen speziellen Umgang mit Filmmaterial offen legt und damit auch seine eigene Geschichte als Filmemacher – wo kommt man her, wo ging es hin.

Wasserwerfer sind zu sehen. Langsam rollen sie durch die Straßen und suchen neue Ziele. Und da ist dieser Mann, der sich immer wieder auf die Straße wirft, vor Rädern knieend bettelt, man möge endlich abdrehen. Dann das sorgenzerfurchte Gesicht von Fritz Marquardt, der sich mit einer Inszenierung quält. Demonstrationen auf dem Alex. Krenz und Schabowski treten vor das Mikrofon. Nur kurz, denn der Fokus liegt auf denen, die keiner kennt. Schnitt. Häftlinge erzählen ihre Sichtweise auf die damals allerorts diskutierte Amnestie. Später die Stellungnahme eines zurückgetretenen Volkskammerabgeordneten.

Heise läßt Zeit, die Menschen vor der Kamera zu betrachten. Die Kamera zoomt manchmal, wackelt. Da ist also jemand, der sich seinen Ausschnitt gesucht hat. Und der eben bewußt keine Jubelbilder am geöffneten Grenzübergang wählt, um auf die vergangene DDR zu blicken. Man muß auch nicht unbedingt wissen, daß Marquard Heiner Müllers „Germania Tod in Berlin“ inszeniert. Man folgt seinen Gesten, Händen, betrachtet die rauchenden Schauspieler im Raum – die sind cool und schön, waren damals die wilden Jungen. Heise hat sein Material vermutlich in dem Wissen gedreht, daß es eines Tages mehr als Archivmaterial sein wird. Das was übrig bleibt, einen Wert hat.

Und damit hat er instinktiv erspürt, was der filmischen Erinnerungskultur im Wendejahr zumeist fehlt: Freiraum, unverbrauchte Bilder, die die kollektive Gedächtnisbilderfestplatte löschen.

D 1988-2009, 164 min
Verleih: Arsenal Institut

Genre: Dokumentation

Regie: Thomas Heise

Kinostart: 07.01.10

[ Susanne Schulz ]