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Meine keine Familie

Rückblick ohne Vorwurf

Alternative Lebens- und Erziehungskonzepte sind schwer in Mode. Scheitern die selbsternannten Erziehungsrevolutionäre, ist die Häme konservativer Kreise groß. In diesem Film, der – reichlich gespickt mit bisher unveröffentlichtem Archivmaterial – die revolutionären Familienexperimente der 70er Jahre aus einer Insiderperspektive betrachtet, fehlt es zwar nicht an kritischen Nachfragen, aber die Häme derer, die es eh schon immer besser gewußt haben, sucht man vergeblich.

So leicht macht es sich der Regisseur Paul-Julien Robert nicht. Obwohl und gerade weil er selbst erlebt hat, was es heißt, inmitten eines sozialen Experimentes groß zu werden. Robert ist in der Kommune des Malers Otto Mühl aufgewachsen. Gemeinsames Eigentum, freie Sexualität ohne feste Paarbeziehungen, kollektives Kinderaufwachsen und Auflösung der Kleinfamilie waren die Grundprinzipien der 1970 gegründeten Lebensgemeinschaft. Zeitweise lebten fast 600 Menschen nach Mühls Lehren, der die Gruppe wie ein Guru leitete. Als sich die Kommune 1990 auflöste, wurde Mühl wegen Unzucht mit Unmündigen verurteilt. Er hatte Kindern und Heranwachsenden seine Ideen von freier Liebe aufgezwungen, ganz zu schweigen von den Versuchen, die Persönlichkeit der Kommunarden (alt oder jung) durch ausgeklügelten Psychoterror zu beeinflussen.

Obwohl Robert keines diese heißen Themen ausläßt, wirkt seine filmische Investigation anfangs seltsam zahnlos. Erst nach einer Weile wird deutlich, woran das liegt. Er war selbst nicht von Mühls sexueller Gewalt betroffen, und das ermöglicht es ihm, ergebnisoffen zu recherchieren. Trotz aller spürbaren Vorbehalte steht die Antwort auf die Frage „Was ist Familie?“ nicht schon vorher fest. Wenn Robert seine Mutter fragt, warum sie nicht eingegriffen hat, ist das keine versteckte Anklage, sondern echte, vorurteilsfreie Neugier. Im Gegenzug müht sich seine Mutter um wirkliche Antworten. Es ist bewegend zu sehen, wie diese beiden Menschen miteinander umgehen, der Suche nach emotionalen Wahrheiten genauso verpflichtet wie dem Wunsch, sich gegenseitig „heil“ zu lassen.

Die Frage, warum genau dieser Wunsch in den 80er Jahren nicht dazu geführt hat, daß jemand Mühl Einhalt geboten hätte, bleibt offen, ohne als Vorwurf formuliert zu werden. Die Zuschauer seines Films, da scheint sich Robert sicher zu sein, werden in der Lage sein, diesen und andere Schlüsse selbst zu ziehen. Man darf gespannt sein, ob er damit Recht behält.

Österreich 2012, 93 min
FSK 12
Verleih: mindjazz

Genre: Dokumentation

Regie: Paul-Julien Robert

Kinostart: 06.02.14

[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.