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Certain Women

Cineastische Lichtblicke, einsame Frauen und nächtliche Ritte

Vielleicht muß man auch das gerade jetzt mal wieder mehr betonen und hervorheben. Daß es nämlich nach wie vor noch existiert – das sich außerhalb etablierter Strukturen behauptende, das starke, weil seiner Erzählkraft wie auch Tradition bewußte, amerikanische Independent-Kino. Gleich zwei Filme aus diesem Paralleluniversum jenseits der Traumfabrik starten jetzt in deutschen Lichtspielhäusern – zwei cineastische Lichtblicke. Ira Sachs’ LITTLE MEN ist der eine. Der andere Kelly Reichardts CERTAIN WOMEN.

Frauenporträt und Einsamkeitsstudie. Und ein erzählerisches Triptychon, angesiedelt im winterlichen Colorado: In einer Kleinstadt versucht Anwältin Laura, ihren vom Ruin bedrohten und verzweifelten Mandanten von einer Schadensersatzklage abzuhalten, die vor Gericht keine Chance auf Erfolg hätte. Als dem Mann diese Chancenlosigkeit endlich klar wird, eskaliert die Situation.

Gina wiederum versucht etwas anderes: die Krise zu verdrängen, in der ihre Beziehung, vielleicht ihr ganzes Leben als Ehefrau und Mutter steckt. Wo alles am Zerbrechen scheint, hat Gina nur ein Ziel – ein Haus soll gebaut werden. Und das unter anderem mit jenem Sandstein, der auf dem Grundstück eines eigenbrötlerischen Alten liegt. Und schließlich noch Jamie, die sich auf ihrer Ranch um die Pferde kümmert. Um der Einsamkeit wenigstens gelegentlich zu entfliehen, besucht Jamie ein Abendseminar für Schulrecht und verliebt sich dort in Kursleiterin Beth.

Drei Geschichten, unspektakulär, lakonisch – und von stiller Tragik. Wie schon in ihren Vorgängerfilmen OLD JOY, WENDY AND LUCY oder dem beindruckend eigenwilligen Western AUF DEM WEG NACH OREGON zelebriert Regisseurin Kelly Reichardt auch in CERTAIN WOMEN einmal mehr ihren kontemplativen Erzählstil, der sich seinerseits aus einer unaufdringlichen Zuneigung für und einem unvoreingenommenen Interesse an diesen Frauenfiguren speist. Es ist die Rarität einer echten Aufmerksamkeit und einer auch szenischen Empathie, die CERTAIN WOMEN eine faszinierend spröde Schönheit verleiht. Schönheit, die es manchmal erst zu entdecken gilt, weil sich hier inszenatorisch nichts spreizt, nichts ausgestellt, nichts forciert wird. Und die darin wiederum perfekt zu den Schauspielerinnen in diesem Film paßt. Die es ihnen ermöglicht, so lebensecht, so ungeschminkt zu agieren, wie sie es hier tun.

Man muß das sehen: Die Augen in Laura Derns müdem Gesicht, wenn sie als Anwältin auf ihren Klienten blickt, dem sie nicht helfen kann. Oder diese Unnahbarkeit, in die sich Gina (Michelle Williams, mit der Reichardt hier schon aus gutem Grund zum dritten Mal arbeitet) hüllt, und die ihr gleichsam Schutzraum und Gefängnis scheint. Oder wie Seminarleiterin Beth nicht erkennen kann oder will, wie ihr ein Mensch etwas entgegenbringt, was sie selbst fraglos entbehrt: Nähe und Zuneigung.

Das sind allesamt erstklassige Charakterskizzen, gerade in ihrer Spröde und Unaufdringlichkeit. Indes: die große Neuentdeckung in diesem Reigen ist Lily Gladstone als Jamie. Die Unscheinbare, die einem unvergeßlich bleibt in ihrem bitteren Alleinsein und allzu scheuem, leisem Liebeswerben. Für das dieser Film dann noch eine Szene bereithält, einen nächtlichen Ritt, wie man ihn noch nicht sah, und der Momente eines herzzerreißend flüchtigen Glücks fixiert, die ihrerseits so beglücken, wie es nur richtig gutes Kino vermag.

Originaltitel: CERTAIN WOMEN

USA 2016, 107 min
FSK 0
Verleih: Peripher

Genre: Drama, Episodenfilm

Darsteller: Laura Dern, Michelle Williams, Lily Gladstone, Kristen Stewart, Jared Harris

Regie: Kelly Reichardt

Kinostart: 02.03.17

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.