21 Bewertungen

Der rote Punkt

Ergreifende Abschiednahme zwischen Nüchternheit und ganz großen Gefühlen

Eine Japanerin einsam in Deutschland: Studentin Aki, von Erinnerungen und Träumen geplagt, verläßt gegen den elterlichen Willen ihre Heimatstadt Tokio, um nach Bayern zu reisen. Vor 18 Jahren verunglückte hier ihre leibliche Familie bei einem Autounfall, allein Aki überlebte. Kürzlich hat sie eine Landkarte entdeckt, auf der ein roter Punkt eben den Ostallgäu markiert. Was dort zu finden ist, weiß die junge Frau vorerst nicht, trifft jedoch Familie Weber, welche den ausländischen Gast freundlich aufnimmt, wobei Vater Johannes ein düsteres Geheimnis zu hüten scheint ...

Selbst wenn man es wollte, wäre über die Handlung kaum mehr zu sagen, denn Regisseurin Marie Miyayama geht es nicht um ausufernde Erzählung, sie hat einen Film der Sinne erschaffen, in dem das Schweigen vorherrscht. Zum heimlichen Hauptdarsteller gerät folgerichtig die Landschaft, geradezu schwebend wirken die wunderschönen Bilder, getragene Musik intensiviert das audiovisuelle Erleben, während Akis Suche hauptsächlich auf einer fast träumerischen Ebene stattfindet, ohne darin zu versinken. Weil Miyayama nach eigenem Bekunden nämlich kein Problem darin sieht, sich von Überflüssigem zu trennen, hat sie ihr Werk nach dem Rohschnitt rigoros gekürzt und neben jeder unnötigen Dialogzeile allen sentimentalen Ballast über Bord geworfen. Und beweist damit einen Instinkt, welcher dem modernen Kino oft fehlt.

Solches Gespür zeigt sich auch darüber hinaus: Miyayama verzichtet beim Zusammenprall der Kulturen auf Klischees, obwohl ihr einige Seitenhiebe offensichtlich Vergnügen bereiten. Wie zum Beispiel, als ein deutscher Polizist darum bittet, der „vietnamesischen Lady“ zu helfen. Tja, für Europäer sehen alle asiatischen Menschen eben gleich aus. Doch derlei sarkastische Ausflüge bleiben Ausnahmen, die Regisseurin widmet sich sofort wieder konzentriert ihrer nüchternen Bestandsaufnahme einer humanen Tragödie. Oder besser formuliert: derer zwei. Denn Miyayama entlarvt die Webers mühelos als der Kommunikation unfähig nebeneinander existierend. Gerade Vater und Sohn haben schon lange keinen Zugang mehr zueinander, jeder kämpft, innerhalb der Gemeinschaft verloren, für sich selbst. In der aufrüttelndsten Szene bricht es, natürlich bloß kurz, endlich aus der sonst stets kontrollierten Mutter heraus: „Seit wann belügen wir uns?!“ Wahrscheinlich seit dem Tag, an dem ihr Mann einen schrecklichen Fehler beging und dessen Verarbeitung unfähig ist. Hier hält Miyayama einer Gesellschaft den Spiegel vor, die es verlernt hat, Schuld zu sühnen und – nicht nur damit verbundene – Gefühle zu artikulieren. Völlig anders dagegen Aki. Wenn sie sich im Zuge eines Todesrituals von ihrer verstorbenen Familie verabschiedet, findet die unverändert zurückhaltende Inszenierung zu schier atemraubender Kraft und bricht gleichzeitig praktisch auf. Dann weicht Sachlichkeit zärtlicher Intimität, und man zollt Miyayama Respekt. Weil ihr sich weder über Lauflänge noch Budget, sondern Wahrheit sowie Realismus definierendes Spielfilmdebüt nun deutlich zu machen vermag, daß Selbstfindung, Loslassen und Neubeginn individuelle Prozesse sein müssen, die einfach keinen festgemauerten Stufenprogrammen oder verallgemeinerten Ratschlägen folgen können.

D/J 2008, 82 min
FSK 0
Verleih: Movienet

Genre: Drama

Darsteller: Yuki Inomata, Hans Kremer, Orlando Klaus, Zora Thiessen, Imke Büchel

Regie: Marie Miyayama

Kinostart: 04.06.09

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...