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Lore

Zu schön, um wirklich wahr zu sein

Die Sachen gepackt, der Hund erschossen: Nach Ende des Zweiten Weltkrieges flüchten Lores Eltern, ehemals hochrangige Nazis. Lore, Älteste von fünf Kindern, schlägt sich mit ihren Geschwistern zur Großmutter durch. Man quert das verwüstete Land, komplett auf sich allein gestellt und der Hilfe Fremder vertrauen müssend. Es beginnt ein zehrender Kampf – gegen Hunger, Kälte und Militärkontrollen, aber gleichsam gegen die Zweifel daran, was lange Zeit richtig schien, in den Heranwachsenden ein Weltbild manifestierte.

Ein großes, ein spannendes, darüber hinaus ob seines anderen Blickwinkels wichtiges Sujet, jedoch streckenweise an seltsame Konventionen verschenkt – beginnend bei der nominellen Kleinigkeit einer fast immer rosig bewangten und aufwendig ondulierten Hauptfigur. Und auch wenn scheinbar nicht der Autor, aber die erfahrene Maskenbildnerin weiß, daß Leid, Entbehrung oder Todesnähe zwar unter Zähneknirschen etwas sorgsam ins Gesicht getupften Schmutz, keinesfalls jedoch einen verrutschten Lidstrich rechtfertigen: Bei allem Respekt vor akkurater Schminkkunst sorgt diese strahlende Fassade gerade angesichts des Themas dafür, daß Gefühle emotionaler Verbundenheit schwinden.

Problematisch außerdem, wie sich die anfangs punktgenaue, nie zu viel redende, bebildernde oder erklärende Inszenierung sukzessive in Überdeutlichkeiten verzettelt – mit klagenden Streichern, trauerndem Klavier, verwesten Leichen als Gegenpol zur künstlerisch wertvoll fotografierten Idylle oder unangenehm brachialen Drehbuchauswüchsen. So wird Lore einmal Komplizin eines Verzweiflungsmordes sein, und die letzten Worte des Opfers lauten: „Du riechst wie der Tod!“ Einerseits keine wirklich schöne Vorstellung, andererseits überflüssiges Letzte-Reihe-Schwatzen. Selbst wenn Saskia Rosendahl in der Titelrolle präzise Akzente setzt, löst Regisseurin Cate Shortland, einst für SOMERSAULT geradezu mit Auszeichnungen überhäuft, das Ansinnen, Grauzonen zu erkunden, so oftmals bloß auf der Oberfläche ein, erfüllt kaum ihre im Gespräch offenbarte Intention, die Psyche eines Kindes auszuloten.

Beim Locarno Film Festival hat all das die Zuschauer indes weder gestört noch davon abgehalten, LORE den Publikumspreis zu verleihen. Irrt hier also ein einzelner Rezensent? Die Antwort erhalten Interessierte wie gewohnt da, wo ein Besuch immer lohnt – im Kino.

Originaltitel: LORE

D/Australien/GB 2012, 109 min
FSK 16
Verleih: Piffl

Genre: Drama, Historie, Literaturverfilmung

Darsteller: Saskia Rosendahl, Nele Trebs, André Frid, Mika Seidel, Kai Malina

Regie: Cate Shortland

Kinostart: 01.11.12

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...