Originaltitel: TOM À LA FERME

F/Kanada 2013, 105 min
FSK 16
Verleih: Kool

Genre: Drama, Thriller, Schwul-Lesbisch

Darsteller: Xavier Dolan, Lise Roy, Pierre-Yves Cardinal

Regie: Xavier Dolan

Kinostart: 21.08.14

19 Bewertungen

Sag nicht, wer Du bist!

Erotisch knisternde, fiebrige Parabel über die Hinterhältigkeit des Verlusts

Tom hat recht. Wenn jemand seinen Partner verliert, dann stirbt auch ein Teil von ihm selbst. Und das, was dann von einem noch übrig ist, was eben so überlebt, das ist in der Zeit der intensivsten Trauer so fragil, daß es schon ausreicht, wenn der Schlager im Radio besoffen von „La couleur de tes cheveux“ plärrt.

Tom fährt, Tom weint, Tom zertritt sein Telefon. Das Geräusch des Überwachungsmonitors, dieses perfide Piepen, geht kaum aus dem Ohr, das Wissen, daß Guillaume nicht zu ersetzen ist, zieht ihm eine Traurigkeit über, die kaum zu beschreiben ist. Deswegen täuscht Tom. Er gibt sich stärker, als er ist: die abgetragene Lederjacke, die Röhrenjeans, die schweren Boots, das verwegene Haar. Wie sehr er zweifelt, ob die Idee, zur Beerdigung seines Freundes in die Provinz zu fahren, eine gute war, zeigt sich, als er den Begrüßungstext an der Tür durchexerziert. Es öffnet ohnehin niemand. Tom setzt sich auf eine Bank, auf der vielleicht einst Guillaume auch saß. Dann findet er den Schlüssel, geht ins Haus und schläft ein.

Allein diese Exposition gestaltet Xavier Dolan in einer bewußten Reduktion, die neugierig macht, die ungeduldig stimmt, weil schon da eine Spannung gelingt, die verrät, daß etwas passieren wird. Geweckt wird Tom von Agathe, der Mutter seines toten Freundes. Sie reden, nähern sich an, sprechen über den Verstorbenen, von dessen Sexualität die Mutter wohl keine Ahnung hatte. Nur: „Er war intelligent. Das mag hier keiner!“ Ihr ist es wichtig, daß die Leute wissen, daß Guillaume ein guter Mensch war. Tom zögert, spricht von Freundschaft, der Liebhaber wird zum Kollegen. Später, mitten im Schlaf, ein urplötzlicher Übergriff: Guillaumes älterer Bruder Francis würgt Tom und fordert unmißverständlich, daß über die wahre Identität seines Bruders nichts herauskommen darf.

Spätestens jetzt hat Dolan die Tür vom Drama zum Thriller aufgestoßen, die doppelbödigen Begegnungen zwischen Francis und Tom sind voll knisternder Erotik, immer scharf an der Grenze zwischen echter Psychomacke Francis’ und ausgemachter Hingabe Toms. Es kommen Fragen auf: Was ist Francis’ Motivation, sein Geheimnis? Warum gibt sich Tom so devot, fast feige und sprachlos, wo er doch sonst so gut mit Worten kann? Warum machen alle im Ort um die Familie einen Bogen?

Dolan gelingt dieses Jonglieren, dieses Spannunghalten, diese Hintertüren und das Vage meisterlich zu einem fiebrigen Geflecht aus Lügen, Geheimnissen und Sehnsüchten, und klar ist man mit Hitchcock schnell auf sattem Zitierterrain. Doch das wäre zu kurz gesprungen. Dolan ins­zeniert darüber hinaus eine wilde Zärtlichkeit, eine morbide Romantik, etwa beim Tango im Stall, wobei sich Francis’ Frage erübrigt: „Wer brachte Dir das bei?“

Und weil man ja bei diesem gefeierten Wunderkind Dolan immer so schnell mit großen Namen ist: Auch der häufige Vergleich mit Fassbinder hinkt, denn sicher drehte auch der im Akkord, aber waren doch dessen erste Filme von einem, wenn auch sympathischen, Dilettantismus gezeichnet. Dolan ist schon weiter, allein wie er hier Liebesdrama und Thriller mit erotischem Touch zu einem kantigen, spannenden, subversiven und manchmal gar komischen Film vermischt, das ist lupenreine Filmkunst.

Die vierte Regiearbeit des Kanadiers, der mit Bravour die zerrissene, passiv-aktive und noch immer liebende Hauptfigur gleich selbst spielt, ist neben Tom Fords A SINGLE MAN die gelungenste noir schimmernde Parabel über das Hinterhältigste, was Liebenden passieren kann: der totale Verlust.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.