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Der alte Affe Angst

Schwindelerregende Karussellfahrt einer beinahe unmöglichen Liebe

Für Robert ist die Party vorbei. Endgültig. Das Leben freudlos, die Aussichten trist, die Lust nicht vorhanden. Dabei liebt er doch Marie. Aber er kann nicht mehr begehren, er hat sich verkapselt, kann Sex weder praktizieren, noch erfassen, kaum verstehen. Er KANN einfach nicht mehr! Marie schreit, sie begreift das alles nicht, ist dennoch Robert so nahe, so wesenseins, so voller Wärme, daß sie beinahe doch versteht. Beinahe. Denn eigentlich hat sie nur große Träume. Fiebrige Träume. Den Traum der ewigen Liebe, den Traum der schwurlosen Treue, den Traum der bedingungslosen Opfergabe.

Roberts Vater liegt im Sterben, Robert empfindet seine Arbeit als Regisseur nur noch als farblose Hülse, Roberts Impotenz beherrscht seinen Tag und regiert seine Nacht. Er geht zu Nutten, zum Psychoanalytiker, die ganze Zeit auf Trebe. Sein Verhalten gegenüber Marie schwankt zwischen purzelbaumschlagender Hysterie, brutaler Cholerikerattacke und welpensanfter Kuschelorgie, um letztendlich in herzbrechendem Amoklauf Marie in den Abgrund zu treiben. Marie ist am Ende. Sie ist an dem Ende, an dem sie schon mal war, damals, als sie noch jünger war. Jünger, aber nicht minder voller Wünsche und Träume, die von einer solchen Aussichtslosigkeit und einer seelischen Ödnis ertränkt wurden, daß die biblische Apokalypse für Marie wie Kinderfasching wirkte ...

Oskar Roehler ist ein erbarmungsloser Erzähler, ein ehrlicher dazu. In absurder Überspitzung widerfährt seinen Figuren das ganze Elend der Welt. Sie sind hilflos, gespenstisch und derart nackt einer grenzgängerischen Liebe erlegen, daß der nächste emotionale Ausfall auch der allerletzte sein könnte. Roehler fragt nicht, er behauptet. Marie und Robert sind moralisch skelettiert, entblößt und dabei die wohlhabendsten aller unglückseligen Schwebewesen. Sie lieben. Mit Rotze und Herzblut, mit Scheiße und Goldstaub. Das hat Roehler zu erzählen, da haben die Schauspieler alles zu geben. Darin werden sie im deutschen Film lange unübertroffen sein. Für einige wird dieser Abgesang auf die Harmonie unverstanden bleiben. Dabei glaubt doch auch Oskar Roehler an die Liebe, an die unersättliche, an die traumhafte. Liebe ist nun einmal mehr als Lakenwechsel, Jahresurlaub, Lebensplanung, Fressengehen. Liebe ist Verzweiflung, Galle und Zerstörung. Das muß einem nicht widerfahren, man sollte es nur verstehen. Damit ist Roehler so ziemlich der gewagteste, aber auch intelligenteste Epilog auf das Festhalten an Gefühlen gelungen, den man im Kino erzählen kann.

Roehler ist radikal, er fordert alles und gibt dabei so viel. Zum einen den starken Glauben an Romantik, ja, Romantik kann auch weh tun, kann auch vernarben. Zum anderen offeriert er die pure Erkenntnis, daß Leben viel mehr als nur fades Verstehen bedeutet. Leben ist bei ihm Grenzgang, Erniedrigung, bleierner Glücksstrahl, purpur schimmernde Übelkeit und nicht zuletzt das höchste Gut des Menschen. Eine verstörend starke Erkenntnis von beklemmender Echtheit.

D 2003, 92 min
Verleih: X Verleih

Genre: Drama, Liebe

Darsteller: Marie Bäumer, André Hennicke, Vadim Glowna, Catherine Flemming

Regie: Oskar Roehler

Kinostart: 24.04.03

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.