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Tony Takitani

Von exorbitanter Einsamkeit und ständigem Stoffwechsel

Einsam? Kein Attribut, das Tony Takitani für sich in Anspruch nehmen würde. Im Gegenteil: Obwohl seine Mutter die Geburt nur um drei Tage überlebte und sein Vater mehr Interesse an Jazz als allem anderen zeigt, hält sich der Junge bloß für autark. Weswegen er auch in zarter Jugend der Haushälterin kündigt, um fortan allein durchs Leben zu gehen. Vielleicht ist Einsamkeit manchmal ein natürlicher Zustand.

Jahre später. Tony hat Erfolg im Beruf und betrachtet diesen als Existenzinhalt. Da läuft ihm Eiko über den Weg – jung, attraktiv, elegant. Plötzlich ändert sich alles, kurze Zeit später folgt die Hochzeit, und Tony spürt zum ersten Mal, was Zweisamkeit bedeutet. Doch Eikos Drang, innere Leere mit dem Kauf teurer Designer-Kleidung zu übertünchen, trübt das Glück. Da in der jungen Frau offensichtlich ein mächtiges psychisches Loch gähnt, füllen ihre Schuhe, Mäntel und Oberteile bald einen ganzen Raum. Tony sieht es mit Sorge und bittet Eiko, ihre Obsession zu beschränken; nicht ahnend, welche Katastrophe er damit heraufbeschwört ...

Und wieder einmal zeigt sich, daß Asien in Sachen großer Filmkunst die Nase weit vorn hat. Wo Amerika oder eben auch Deutschland den überdimensionalen Klischee-Hammer ausgepackt hätten, um sich dem diffizilen Thema mit möglichst deutlichen Versatzstücken zu widmen, beschränkt Regisseur Ichikawa sein Werk auf das Nötigste. Zum Beispiel einen Gänsehaut verursachenden Blick in ein mit Kleidern und Erinnerungen vollgestopftes, bedrohliches Zimmer. Oder auf wenige Darsteller, die mehrere Charaktere stemmen. Selbst Kniffe wie der Erzähler aus dem Off wirken nie artifiziell, sondern tragen im Gegenteil zur besonderen Atmosphäre des Kammerspiels bei. So treffende wie spärliche Dialoge runden ein Meisterwerk ab, welches auf vielerlei Ebenen funktioniert, visuell fasziniert, Fragen stellt, ohne sie gleich selbst zu beantworten, und bei alldem ebenso zermürbt wie fasziniert.

Dringend empfohlen sei deshalb, vor dem Besuch den heimischen Weinvorrat auf ein angemessenes Niveau zu heben. Angesichts der zwingend nachfolgenden Diskussionen ist ein solches nämlich nicht nur für Fans Haruki Murakamis, aus dessen Feder die als Vorlage dienende Erzählung stammt, unabdingbar.

Originaltitel: TONY TAKITANI

J 2004, 75 min
Verleih: Alamode

Genre: Literaturverfilmung, Poesie, Drama

Darsteller: Issey Ogata, Rie Miyazawa, Shinohara Takahumi

Stab:
Regie: Jun Ichikawa
Drehbuch: Jun Ichikawa

Kinostart: 09.06.05

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...